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Interview des Botschafters der Republik Belarus in der Bundesrepublik Deutschland Denis Sidorenko für die Zeitung „Berliner Telegraph“

15.03.2024 г.

Herr Botschafter, wie schätzen Sie das vergangene Jahr 2023 im Kontext der Entwicklung der deutsch-belarusischen Beziehungen ein?

Leider wurde das vergangene Jahr 2023 nicht zum „Wendepunkt“ oder zur neuen positiven Phase in der belarusisch-deutschen Beziehungen. Es war vielmehr ein weiteres Jahr der verpassten Möglichkeiten und des unrealisierten Potenzials.

Das offizielle Berlin hielt sich gegen gemeinsame Interessen und kooperative Logik weiterhin an die Linie der Einschränkung des politischen Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern fest. Diese negative Positionierung der deutschen Seite wirkte vernichtend auf bilaterales Zusammenwirken in fast allen Bereichen einschließlich der Wirtschaft und der Kontakte zwischen Menschen aus.

Dennoch wurde im Jahr 2023, auch mit Unterstützung unserer Botschaft, eine Reihe bedeutender Projekte und gegenseitiger Besuche realisiert im Rahmen der Partnerschaftsbewegung, der humanitären und kulturellen Zusammenarbeit, sowie im Bereichen der gegenseitigen Versöhnung und der Erhaltung des historischen Gedächtnisses. So, zum Beispiel, wurde in Zusammenarbeit mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge die Umbettung in Belarus der Überreste eines in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs gefallenen belarusischen Militärangehörigen organisiert. In Cottbus (Bundesland Brandenburg) fand die Ausstellung des berühmten belarusischen Künstlers Viktor Alshevsky «Augenblick der Ewigkeit» statt. Im Oktober nahm repräsentative deutsche Gesellschaftsdelegation an Gedenkveranstaltungen in Belarus teil, die dem 80. Jahrestag der Vernichtung des Minsker Ghettos gewidmet wurden.

Wir hoffen, dass gerade solches Zusammenwirken und stattgefundene Kontakte in der Zukunft zur Veränderung der negativen Situation in unseren politischen Beziehungen mit Deutschland beitragen und zur Grundlage für den Aufbau der vielfältigen Zusammenarbeit und der gegenseitig vorteilhaften, gutnachbarschaftlichen europäischen Partnerschaft werden.

Hat Ihrer Meinung nach die Zunahme der Spannungen zwischen Deutschland und Russland, mit dem die Republik Belarus eng verbündet ist, Auswirkungen auf belarusisch-deutsche Beziehungen?

Die Russische Föderation ist unser strategischer Partner und Verbündeter, mit dem wir die Integrationsprozesse, vor allem im wirtschaftlichen Bereich, aktiv entwickeln.

In diesem Zusammenhang wurde der drastische Anstieg der Spannungen in den Beziehungen zwischen Russland und den NATO-, sowie EU-Staaten im Kontext des Militärkonflikts in der Ukraine von der Europäischen Union genutzt, um ihre Politik gegenüber Belarus zu verschärfen und die illegalen Sanktionen gegen unser Land und belarusische Bürger auszuweiten. Dies hat sich auch auf das belarusisch-deutsche Zusammenwirken negativ ausgewirkt.

Es ist bedauerlich, dass Berlin und Brüssel, anstatt durch Dialog mit allen Beteiligten nach Wegen für baldmöglichste Beilegung der Ukraine-Krise zu suchen, sowie gemeinsame Lösungen der aktuellen Herausforderungen, einschließlich im Sicherheitsbereich, zu erarbeiten, sich für gefährliche und aussichtslose Logik der harten Konfrontation, für physische Abgrenzung von den Nachbarn, Blockteilung der Länder in „unsere“ und „fremde“, Fragmentierung und vollständigen Abbau der gesamten europäischen Sicherheitsarchitektur entschieden haben.

Eines der Grundprinzipien der Außenpolitik von Belarus besteht darin, dass wir bereit sind, konstruktiven Dialog und pragmatische Zusammenarbeit mit allen Staaten der Welt, einschließlich Deutschland und anderer Länder der Europäischen Union, zu entwickeln, aber nicht zu Lasten unserer nationalen Interessen und strategischen Beziehungen mit Russland.

Wie bedeutsam sind die Auswirkungen der EU-Sanktionen auf Belarus und belarusische Wirtschaft?

Tatsächlich entwickelte sich die belarusische Wirtschaft in der letzten Zeit unter nicht gerade einfachen Bedingungen wegen der Anwendung von einseitigen und dem Völkerrecht widersprechenden Sanktionen seitens der westlichen Staaten.

Wenn wir über die Wirtschaftssanktionen der EU sprechen, sind sie hauptsächlich darauf gerichtet, den gegenseitigen Handel in einer Reihe von Sektoren zu begrenzen bzw. vollständig zu blockieren. Die Märkte der EU-Länder wurden zum Beispiel für belarusische Holz-, Eisen- und Stahlerzeugnisse und eine Reihe anderer Produktgruppen, die früher auch in Deutschland sehr gefragt waren, geschlossen. Auch belarusische Kalidünger wurden unter die restriktiven Maßnahmen der Europäischen Union gesetzt, wodurch den Schaden nicht nur für Belarus, sondern auch für die globale Ernährungssicherheit verursacht wurde, da der Anteil der belarusischen Kalidünger auf dem Weltmarkt früher etwa 20% betrug.

Negative Auswirkungen der Sanktionen haben die Unternehmen sowohl in Belarus als auch in Deutschland betroffen. Die erzwungene Kürzung oder vollständige Einstellung der Verkäufe auf dem europäischen Markt verursachte in der Anfangsphase Verluste bei unseren Exporteuren und, als Folge, entsprechende Lohnkürzungen und Gefahr von Arbeitsplatzverlusten bei ihren Mitarbeitern. Dabei behaupten die Initiatoren der Sanktionen immer wieder, dass diese nicht gegen belarusische Bürger gerichtet sind.

Die Regierung von Belarus hat umgehend umfassende Maßnahmen ergriffen, um den durch die westlichen Sanktionen entstandenen Schaden zu minimieren. Es wurden unter anderem rechtliche Rahmenbedingungen angepasst mit dem Zweck, effektives Funktionieren der Volkswirtschaft zu gewährleisten. Betriebe und Unternehmen, die ohne jegliche Schuld unter Sanktionsdruck gesetzt worden sind, wurden entsprechend unterstützt und soziale Sicherheit der Arbeitnehmer wurde gestärkt. Diese Maßnahmen werden fortgesetzt.

Von entscheidender Bedeutung waren auch die gezielten Anstrengungen in den Bereichen der Diversifizierung unseres Außenhandels, der Neuausrichtung hochwertiger belarusischer Produktion auf andere Exportmärkte, der Anpassung der Logistikketten und des Wiederaufbaus der stabilen Versorgung mit notwendigen Komponenten, sowie der allgemeinen Erweiterung der Wirtschafts- und Investitionszusammenarbeit mit unseren traditionellen und neuen Partnern, auch auf anderen Kontinenten.

Die unternommenen Anstrengungen waren effizient und ergebniswirksam. Belarusische Wirtschaft hat nicht nur standgehalten, sondern ist stärker geworden. Ungeachtet der Sanktionen wurde positiver Saldo im Außenhandel mit Waren und Dienstleistungen erzielt, der sich im Jahr 2023 auf fast eine halbe Milliarde US-Dollar belief. Der Außenhandelsumsatz stieg im Vergleich zu 2022 um 6,8% auf über 95 Milliarden US-Dollar. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs 2023 um 3,9% und die Industrieproduktion – um 7,7%, was nach Angaben der Eurasischen Wirtschaftskommission der höchste entsprechende Indikator unter den Ländern der EAWU ausmachte. Bei durchschnittlicher jährlichen Inflation von 5,8% stieg das Realeinkommen um 6,3%. Diese Zahlen sprechen für sich, auch im Vergleich mit aktuellen ähnlichen Indikatoren der meisten EU-Länder.

Wie entwickelt sich die bilaterale Handels- und Wirtschaftszusammenarbeit zwischen Belarus und Deutschland unter aktuellen Rahmenbedingungen?

Deutschland war traditionell einer der wichtigsten Wirtschaftspartner von Belarus. Unsere Länder waren durch aktive Handelsbeziehungen, beiderseitig vorteilhafte Geschäfts- und Investitionsprojekte, sowie die Zusammenarbeit im breitem Bereichsspektrum verbunden, die den Interessen von Belarus und Deutschland, der Wirtschaftskreisen und der Bürger beider Länder voll und ganz entsprachen.

Leider wird heute die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Belarus von den EU-Staaten, einschließlich Deutschland, die der blinden Logik der Sanktionskonfrontation folgen, eingeschränkt und in einigen Bereichen sogar blockiert, was auch der deutschen Wirtschaft schadet. Die finanzielle Zusammenarbeit und die regionale Handelslogistik werden zunehmend erschwert, unter anderem durch Entscheidungen Polens und Litauens, die Grenzübergänge an der Grenze mit Belarus zu schließen. Als Folge werden langjährige belarusisch-deutsche Geschäftsbeziehungen in verschiedenen Bereichen geschwächt oder komplett unterbrochen.

Dennoch wird unsere Handels- und Wirtschaftszusammenarbeit, wo noch möglich ist, fortgesetzt. Die Wirtschaftskreise sowohl in Belarus als auch in Deutschland sind sich bewusst, dass wir vom Standpunkt der zukünftigen Handels- und Investitionspartnerschaft füreinander von großem Interesse sind. Jetzt ist es wichtig, den vollständigen Abbruch der bilateralen Geschäftsverbindungen und Kontakte zu verhindern, die erhaltenen Kooperationsprojekte zu unterstützen, sowie gemeinsam nach neuen Nischen zu suchen und alle bestehenden Möglichkeiten zu nutzen für den Aufbau und die Entwicklung des pragmatischen Zusammenwirkens unter den aktuellen Sanktionsbedingungen. Darauf ist der Schwerpunkt in der Tätigkeit unserer Botschaft gerichtet.

Wie ist die Position der Republik Belarus bezüglich der Situation in der Ukraine? Wie wird in Belarus mit den ukrainischen Flüchtlingen und gezwungenen Aussiedlern umgegangen?

Die Republik Belarus setzt sich konsequent für rasche friedliche Beilegung des Militärkonflikts in der Ukraine ein, der heute erhebliche negative Auswirkungen auf die Sicherheit unseres Landes und der gesamten osteuropäischen Region hat. Jeder Tag des Konflikts führt zu neuen Todesfällen, zum Leid und zur Zerstörung.

Wir gehen davon aus, dass es keine Alternative für diplomatische Lösung am Verhandlungstisch gibt. Wie auch früher ist Belarus bereit, den Beitrag zum Friedensprozess zu leisten, auch durch die Bereitstellung der Verhandlungsplattform, wenn die Konfliktparteien daran interessiert sind.

Seit Februar 2022 sind rund 160 000 ukrainische Bürger in unser Land gekommen. Die notwendige Unterstützung wurde allen, die sie brauchten, geleistet, einschließlich der Vergabe des Flüchtlingsstatus bzw. der Aufenthaltsgenehmigung in Belarus, der Schaffung von Möglichkeiten für Arbeit und Studium, sowie der Gewährleistung der medizinischen und humanitären Hilfe. Wir sind immer bereit, den Menschen in Not zu helfen.

Wird sich der jüngste Regierungswechsel in Polen auf belarusisch-polnische Beziehungen auswirken?

Belarus und Polen haben als Nachbarländer viele Berührungspunkte und potenzielle Möglichkeiten für konstruktive und gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit. Wir befinden uns im Zentrum Europas, und die wichtigsten kontinentalen Transitrouten verlaufen durch unsere Länder.

Leider befinden sich die belarusisch-polnischen Beziehungen derzeit auf dem tiefsten Stand. In den letzten Jahren war die Politik der polnischen Seite gegenüber Belarus explizit konfrontativ und alle belarusischen Kooperationsvorschläge wurden abgelehnt. Auch heute werden die Grenzübergänge folgend der einseitigen Entscheidungen der polnischen Regierung geschlossen, die Militärpräsenz in der Nähe unserer Grenzen wird verstärkt und die Situation rund um illegale Einwanderer wird grundlos angeheizt.

In diesem Kontext könnte der Regierungswechsel in Warschau zum «Fenster der Möglichkeiten» werden um die Spirale der Spannungen in unseren Beziehungen zu durchbrechen. Wir hoffen, dass neue polnische Regierung, folgend in erster Linie eigenen nationalen Interessen, ihre kontraproduktive Haltung überdenkt und im direkten Dialog mit Minsk zukunftsorientierte positive Agenda für bilaterale Zusammenarbeit erarbeitet.

Als Zeichen der Offenheit verlängerte zum Beispiel die belarusische Seite die visafreie Einreise in die Republik Belarus für polnische Bürger noch für ein Jahr – bis Ende 2024.

Wie betrachtet die Republik Belarus die Entscheidung Berlins, eine Bundeswehrbrigade dauerhaft in Litauen zu stationieren? Ist das eine direkte Bedrohung für nationale Sicherheit von Belarus?

Der Ausbau der militärischen Präsenz und Infrastruktur, sowie die Durchführung der NATO-Großmanöver in unmittelbarer Nähe der belarusischen Grenzen geben uns Anlass zu ernsthafter und begründeter Sorge. Diese Eskalationsschritte verletzen dabei oft bestehende internationale Abkommen und Verpflichtungen. Sie stellen objektiv Bedrohung für die Sicherheit von Belarus dar und erfordern adäquate Reaktion von unserer Seite.

Die Republik Belarus geht fest von dem Grundprinzip der Unteilbarkeit der Sicherheit aus und setzt sich für die Wiederaufnahme des offenen, inklusiven Dialogs im Rahmen der entsprechenden internationalen Formate und auf bilateraler Ebene ein mit dem Ziel, künftige gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur gemeinsam zu gestalten und die Stabilität in Europa zu stärken.

Wie entwickeln sich menschliche Kontakte zwischen Belarus und Deutschland? Können belarusische Bürger derzeit einfach ein Schengen-Visum bekommen?

Die Sanktionsmaßnahmen und isolationistische Schritte seitens der Europäischen Union und einzelnen EU-Mitgliedstaaten, die eigentlich darauf gerichtet sind, neuen Eisernen Vorhang in Europa zu errichten, haben die Kontakte zwischen Belarusen und Deutschen, sowie anderen europäischen Völkern, einschließlich Nachbarn, drastisch erschwert. Zurzeit gibt es keine direkten Flug- und Bahnverbindungen zwischen unseren Ländern. Polen und baltische Staaten haben die Zahl der Grenzübergänge an der EU-Grenzen mit Belarus radikal reduziert. Als Folge sind diejenigen, die mit dem Auto reisen, gezwungen, tagelang unter unmenschlichen Bedingungen in der Schlange stehen. Das Erteilungsverfahren für Schengen-Visa und nationale Visa der EU-Mitgliedstaaten wurde erheblich erschwert.

Ungeachtet dessen, trotz aller von unseren europäischen Partnern und Nachbarn errichtenden künstlichen Hindernisse und Barrieren werden die grenzüberschreitenden Kontakte zwischen den Menschen fortgesetzt. Es sind nicht nur familiäre und freundschaftliche Verbindungen, sondern auch, wie im Falle Deutschlands, Kontakte im Rahmen der langjährigen Projekte und Initiativen im Bereichen der Städtepartnerschaft, der humanitären und kulturellen Zusammenarbeit. Andererseits ist die Zahl belarusischer Touristen in Deutschland unter diesen Umständen kleiner geworden.

Welche Ereignisse im Jahr 2024 für die Republik Belarus und für die Tätigkeit Ihrer Botschaft in Berlin sind für Sie besonders wichtig?

Das Jahr 2024 ist in der Republik Belarus zum Jahr der Qualität erklärt worden. Es ist auch ein wichtiges politisches Jahr für Belarus.

Entsprechend der im Jahr 2022 beschlossenen Verfassungsänderungen fand 
am 25. Februar 2024 zum ersten Mal in der Geschichte unseres Landes der Einheitliche Wahltag statt. Es wurden 110 Abgeordnete des Repräsentantenhauses der Nationalversammlung der Republik Belarus und 12 511 Abgeordnete der Kommunalräte gewählt. Die Wahlen wurden offen, demokratisch und im Einklang mit der nationalen Gesetzgebung durchgeführt, was unter anderem durch Bewertungen internationaler Beobachtermissionen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit bestätigt wurde. Die Wahlbeteiligung bei der Abgeordnetenwahl lag bei 73,14%.

Anfang April 2024 werden die Wahlen der Mitglieder des Rates der Republik, des Oberhauses des belarusischen Parlaments, stattfinden. Im April werden auch die Delegierten des neuen Verfassungsorgans – der mit weitreichenden staatlichen Vollmachten ausgestatteten Allbelarusischen Volksversammlung – gewählt.

Darüber hinaus werden wir im Jahr 2024 das wichtigste Datum in der Geschichte von Belarus feiern – den 80. Jahrestag der Befreiung des Landes von den NS-Besatzern.

Während des Zweiten Weltkriegs und des Großen Vaterländischen Kriegs verfolgten die Nationalsozialisten Politik des Völkermords an dem belarusischen Volk als Bestandteil der Ostslawen. Nach einigen Angaben starb dabei jeder dritte Einwohner von Belarus. Tausende Ortschaften wurden vollständig zerstört. Zu Symbolen dieser schrecklichen Tragödie wurden das belarusische Dorf Chatyn, das mit allen seinen Bewohnern verbrannt wurde, und das größte auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR Vernichtungslager Trostenez.

Es ist kein Zufall, dass der wichtigste Nationalfeiertag der Republik Belarus – der Unabhängigkeitstag – am 3. Juli gefeiert wird. An diesem Tag im Jahr 1944 wurde die Hauptstadt unseres Landes Minsk befreit. Unsere Botschaft plant eine Reihe von Gedenkveranstaltungen in Deutschland durchzuführen, die diesem bedeutenden Ereignis gewidmet werden.
 

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